Nicht selten vermischt sich Historie mit ausschmückendem Fabulieren. Was Wahrheit und was Dichtung ist, unterliegt deshalb oftmals der Interpretation. Im Fall der Legende um Lady Godiva, die sich traute nackt auf ihrem Pferd durch das englische Coventry zu reiten, um die Steuerlast der Bürger zu senken, ist jedenfalls die Existenz der wagemutigen Adligen sowie ihres Gatten Leofric, seines Zeichens Earl of Mercia, belegt.
Lady Godiva von John Collier
Godiva, die wesentlich jünger als Leofric war, wird als Schönheit beschrieben und war schon vor der Heirat mit Leofric eine wohlhabende Landbesitzerin. Fromm, gutherzig und den schönen Künsten zugetan, sind weitere der Adligen zugeschriebene Attribute. Godivas Geburt ist auf das Jahr 990 festgelegt, ihr Ableben kann lediglich auf den Zeitraum zwischen 1066 und 1086 eingegrenzt werden. Das Datum ihrer Eheschließung mit Leofric ist unbekannt; für beide war es nicht die erste Ehe.
Leofric erwarb sich maßgebliche Verdienste als Unterstützer des Dänenkönigs Knut dem Großen (990 bis 1035), sowie dessen Nachfolgern, im Kampf um die Herrschaft über England. Nicht zuletzt deshalb avancierte Leofric zu einem der mächtigsten Männer im Lande. Die Grafschaft Mercia war ein Geschenk Knuts. Gemeinsam mit seiner Gemahlin Godiva trat er als Wohltäter diverser kirchlicher Einrichtungen auf; anno 1043 gründeten sie ein Benediktinerkloster in Coventry. Leofrics Tod ist auf den Spätsommer 1057 datiert.
Den Anstoß für Godivas legendäre Aktion gab die als Heregeld bezeichnete Steuerlast, unter der die Einwohner Coventrys aufstöhnten. Heregeld wurde von den Bürgern als Fortsetzung des Danegeldes (etwa 980 bis 1018) gesehen. Danegeld waren Tributzahlungen, mit denen sich die Engländer von weiteren Raubzügen der Dänen (Wikinger) freikauften. Da die Raubzüge im Jahre 1018 endeten, und das Land befriedet war, gab es eigentlich keinen Grund mehr, Danegeld-Tribut einzufordern. Nichtsdestotrotz mussten die stehenden Truppen finanziert werden - das Heregeld wurde zum Großteil dafür eingesetzt.
Ein unmoralisches Angebot
Mehrfach soll Godiva ihren Gatten vergebens gebeten haben, die Steuern zu senken, bis diesem eine Idee kam, wie er die ständigen, ihm lästigen Gesuche seiner Gemahlin unterbinden könnte. Er machte seiner tugendhaften Frau einen verwegenen Vorschlag: Wenn Godiva zur Mittagsstunde nackt auf ihrem Pferd über Coventrys Marktplatz ritt, - oder, wie andere Quellen berichten, quer durch die Straßen der Ortschaft -, würde er die Steuern, bis auf die Pferdesteuer, streichen.
Zu Leofrics Überraschung ließ Godiva sich auf den Deal ein. Sie ersuchte die Einwohner Coventrys während ihres Rittes in den Häusern zu bleiben und pietätvoll die Fensterläden zu schließen. Das Wagnis wurde offensichtlich belohnt. Der Überlieferung nach hielten sich Coventrys Einwohner an die Abmachung und entsagten der Versuchung, einen Blick zu riskieren. Godiva, deren Blöße lediglich von ihrem lang herab fallendem Haar bedeckt wurde, konnte unbehelligt ihre Mission erfüllen. Leofric hielt Wort, und tatsächlich ergaben Nachforschungen, dass zu dem in der Legende angegebenen Zeitraum in Coventry außer Pferdesteuern keine weiteren Abgaben erhoben wurden.
Ein schwarzes Schaf
Ein Detail der Godiva-Legende wurde im Nachhinein hinzugefügt. Es soll eine unrühmliche Ausnahme in der Bevölkerung gegeben haben, einen Schneider namens Tom, der sich nicht an die Vorgabe hielt. Um einen Blick auf die unbekleidete Adlige zu erhaschen, bohrte er Löcher in den Fensterrahmen. Die Strafe folgte jedoch auf dem Fuße: Der Zorn des Himmels traf den Sünder, der, noch ehe er der nackten Godiva angesichts werden konnte, mit Blindheit geschlagen ward. Der Begriff „Peeping Tom“ war hiermit geboren - ein Nebenprodukt der Legende um Godivas Ritt.